Newsletter 2022

Projekt Guarayos im Corona-Modus

Es ist der 8. Dezember – ich fliege zum 19. Mal nach Bolivien. Ich entgehe dem weihnachtlichen Konsumzwang und auch der unvermeidlichen akustischen und visuellen Dauerberieselung. Die zahllosen Corona-Auflagen für meine Reise sind eine Herausforderung für sich, aber dann gestalten sich Gepäckaufgabe und Einchecken am Flughafen reibungslos.

Bei der Passkontrolle in Santa Cruz ViruViru erlaubt mir der Beamte nur 30 Tage und nicht 34 Tage Aufenthalt, wie gebucht. Er lässt nicht mit sich verhandeln, ich muss zum Amt für Migration in die Stadt.

Kofferchaos

In der viel zu kleinen Ankunftshalle des Flughafens stapelt sich inzwischen das Gepäck in unüberschaubarer Weise. Koffer, Taschen, Säcke, Kartons und unförmige Ballen türmen sich übereinander. Das einzige und zu kurze Gepäckband ist längst überlastet und muss laufend abgeräumt werden. In dem Chaos bleibt mein zweites Gepäckstück unauffindbar. Nach 4 ½ Stunden gebe ich die Hoffnung auf und verlasse völlig entnervt das Flughafengebäude.

Draußen überfällt mich die tropisch-feuchte Hitze mit voller Wucht. Die Schwestern empfangen mich mit freudiger Erleichterung, denn auch sie haben 4 ½ Stunden geduldig ausgeharrt.

Die Zwischenstation im Konvent in Santa Cruz sollte eigentlich nur einige Stunden dauern, der fehlende Koffer aber zwingt mich, mehrere Tage auszuharren. Die Zeit rinnt mir durch die Finger, der Koffer kommt nicht, ich werde ungeduldig. Noch länger abzuwarten ist sinnlos und so fahren wir endlich ab. Nach 6 Stunden Fahrt in unserem neuen Minibus kommen wir endlich in Ascensión de Guarayos an. Nach einem kleinen Abendessen mit einem Gläschen Rotwein erfrische ich mich unter der Dusche und falle ins Bett – das ist knochenhart! Ich überstehe eine qualvolle Nacht- am nächsten Tag wird die Matratze sogleich ausgetauscht.

Die Matratze ist bretthart!

Leicht gerädert fühle ich mich morgens dann endlich am Ziel angekommen. Als erstes besuche ich unser Ernährungszentrum Santa Clara. Das Team hat sich erweitert: Schwester Janira findet Unterstützung durch Angelita, eine Psychologin, wie auch durch Ebelia, der Ernährungswissenschaftlerin. Der Besuch hinaus ins Dorf ist schon vorbereitet, eine kleine Apotheke mit den notwendigsten Medikamenten ist eingepackt. Mit dem Minibus geht es über grauenhaft rutschige Wege, vom Dauerregen ausgewaschene Gräben machen das Fahren zum Abenteuer. Gary ist ein erfahrener Chauffeur und manövriert das nicht sehr geländefreundliche Fahrzeug zum Ziel. Zuerst treffen wir Jesus an – er ist 12 Jahre alt, der mit seinen 5 Geschwistern in einer brüchigen Bretterbude haust, umgeben von Müll, Abfall, Unrat. Die größeren der Kinder gehen nicht zur Schule, die drei kleinen Schwestern sind völlig verdreckt und zeigen auf Ansprache kaum Reaktion. Schwester Janira verteilt ein paar Tüten Nudeln, sonst kann sie als Krankenschwester nichts tun. Als Psychologin wird Angelita Kontakt zum Jugendamt der Gemeinde aufnehmen. Sie erkennt hier einen Fall schwerer Vernachlässigung und wird sich mit den Sozialarbeitern des örtlichen Jugendamtes vernetzen.

Jesus, 12 J.

Gary kennt die Gegend und bringt uns zur nächsten Hütte. Petronilla ist 79 Jahre alt und pflegt ihren doppelt beinamputierten Mann, der blass und hohläugig auf seinem Lager hockt. Er leidet an Diabetes und hohem Blutdruck. Hier fehlt es an allem. Das Dach ist undicht und hält dem tropischen Dauerregen nicht Stand. Der sauber aufgeschichtete Stapel Kleidung ist völlig durchnässt, bei dem feuchten Klima wird er so schnell nicht trocknen. Der Rollstuhl ist defekt, Petronilla muss ihren Mann ohne Hilfe zur Toilette schaffen. Das ist ein Erdloch draußen im Freien – unfertig und provisorisch. Ihr fehlt das Geld, um ein geschütztes Clo-Häuschen errichten zu lassen. Das Santa -Clara -Team hilft mit Lebensmitteln und den notwendigsten Medikamenten.

 

Die Hütte von Señora Ascensia ist vorbildlich aufgeräumt, der gestampfte Lehmboden blitzsauber gekehrt. Ascensia ist 72 J, sie leidet an chronischen Bauchschmerzen, eine genaue Diagnose ist nicht bekannt. Sie wohnt hier allein. Unser Besuch ist ihr schon eine große Hilfe und erst recht die Medikamente, die ihre Schmerzen lindern sollen. Mehr können wir nicht tun.

In einer anderen Familie ist es dem Team um Schwester Janira gelungen, mittels Samen einen kleinen Garten mit lebenswichtigen Gemüsen anzulegen. In Reih‘ und Glied wachsen hier Mais, Yukka, Paprika und anderes, um den ansonsten eintönigen Reis mit Vitaminen anzureichern. Samentütchen sind preiswert und für jedermann erschwinglich. Es ist ein Versuch, der möglicherweise zu einem eigenständigen Projekt führen könnte.

Der Samen ging auf…

Gary

Ivana ist ein 3jähriges Mädelchen, welches im Rahmen der Dorfbesuche mit einer schweren und lebensgefährlichen Unterernährung aufgefunden wurde. Im Rahmen einer stationären Behandlung in der örtlichen Kinderklinik konnte das Kind gerettet werden, es wird weiter regelmäßig überwacht. Ivana hat überlebt, kann frei laufen und doch muss von einer allgemeinen Entwicklungsstörung ausgegangen werden. Angelita wird sich des Mädchens annehmen, ihren Entwicklungsstand einschätzen und sie einer Förderung zuweisen.

Leider ist unsere heilpädagogische Frühförderstelle TAU 1 immer noch wegen Corona geschlossen, die Leiterin Rut hat sich aus finanziellen Gründen anderweitig orientiert. Derzeit hat es wenig Sinn, angesichts der hohen Infektionszahlen einen neuen Anfang zu wagen. Wir müssen warten.

Am Ende des Vormittags haben wir dank des neuen Fahrzeugs 11 Familien besucht und ca. 30 km zurückgelegt. Die Fälle ähneln sich. Immer steht die finanzielle Not im Vordergrund, die die Familien hungern lässt, die den Schulbesuch vereitelt, Medikamente unerschwinglich werden lässt.

Corona verschärft hier draußen die Armut auf drastische Weise. Umso wichtiger sind die regelmäßigen Besuche in die bis zu 10 km entfernten Dorfteile, wo kranke und unterernährte Kinder unversorgt aufgefunden werden, aber auch behinderte Menschen ohne Unterstützung, alleinlebende Alte. In vielen Familien treten Gewalt, Misshandlungen und andere soziale Probleme auf, denen wir mit der Vermittlung an Ärzte, Psychologen, dem Jugendamt helfen müssen.

Es regnet unaufhörlich, unsere Tour ins Dorf muss heute ausfallen. Es ist heiß und feucht, die Mücken sind eine Tortur. In vielen Hütten hängen Moskitonetze, wie dicht sie sind, ist eine andere Frage. Ich treffe ein etwa 5 jähriges Mädchen, das mit eitrig entzündeten Stichen übersät ist. Man müsste sie, wie so viele andere auch, sofort behandeln. Dazu fehlen Zeit, Organisation, Personal. Der Mutter geben wir gute Ratschläge in der Hoffnung, dass sie sie befolgt.

Die Regenpause nutzen wir zur nächsten Aktion im Dorf: Schwester Janira und ihre Mitarbeiterinnen laden Lebensmittel in den Bus, um im Dorf mit einer Anzahl interessierter Frauen einen Kochkurs durchzuführen. Wie immer geht es um die Zubereitung von Gerichten auf Sojabasis, der Verwendung von frischem Gemüse, um dem andauernden Vitamin-und Eiweißmangel entgegenzuwirken. Die Frauen schnippeln und putzen das Gemüse, während Schwester Janira einer Gruppe von Kindern einen Vortrag zum Thema Corona und Hygiene hält. Da sitzen sie auf ihren selbstgezimmerten Bänkchen und hören genau zu, was die Schwester ihnen anschaulich und lebendig erklärt. Alle hatten mit Corona zu tun, haben Angehörige verloren, mussten mit Trauer umgehen.

Kochen

 

Zuhören

Händewaschen

Im Dorf grassieren Corona, Grippe, Dengue-Fieber, viele leiden unter hohem Fieber. Die aus Deutschland mitgebrachten Medikamente sind eine große Hilfe. Wir werden sie in kleinen Mengen ausgeben, um den Vorrat möglichst lange zu strecken. Auch vor den Schwestern machen die Infekte nicht Halt, und so sitzen wir irgendwann recht minimiert im Comedor um den Tisch herum.

In Bolivien ist jetzt Sommer. Alles ist grün, Bäume, Büsche und Blumen setzen mit ihren Blüten farbige Akzente. Es fällt mir schwer, weihnachtliche Gefühle in mein Herz einkehren zu lassen. Auch ist es viel zu hell, als dass sanfter Kerzenschimmer zur Feierlichkeit beitragen könnte. Mit Schwester Andrea gehe ich in unser sonderpädagogisches Zentrum TAU. Normalerweise lernen hier ca. 30 schulpflichtige Kinder, die aufgrund ihrer Behinderung in der Schule nicht zu integrieren sind. Aber es sind Sommerferien, und das TAU bleibt leer. Wir treffen Prof. Lidia an, die gemeinsam mit der Helferin Eugenia rote Plastikbeutel mit Grundlebensmittel füllt, um sie als Weihnachtsgeschenke den Familien der Schüler zu überbringen. Lebensmittel sind teuer, die Familien sind groß, viele Mägen bleiben leer.

Über allen Aktivitäten liegt ein vorweihnachtlicher Hauch. Schwester Andrea backt Früchtebrot nach österreichischem Rezept mit bolivianischen Zutaten. Meine mit Hingabe gebackenen Engelsaugen nach deutschem Rezept sind leider verbrannt…

Draußen auf der Leiter steht Schwester Martha und bringt die Weihnachtsbeleuchtung an. Ich frage mich, wie weit meine Weihnachtsgefühle von Äußerlichkeiten abhängig sind, ich suche nach innerer Einkehr, weihnachtlichen Gedanken und vermisse meine Familie.

Es hat stundenlang geregnet. Die Wolken hängen schwarz und schwer am Himmel, wir müssen mit weiteren Schauern rechnen. Trotzdem machen wir uns auf den Weg, um die roten Tüten mit Glitzersternen und Schleifen in die Familien zu bringen. Wir fahren wiederum mehr als 30 km über matschige Wege, Gräben, tiefe Furchen müssen überwunden werden. Immer wieder drehen sich die Räder im Schlamm, aber Gary schafft es mit Geduld und Fingerspitzengefühl, jede noch so brenzlige Situation zu meistern.

Irgendwo im Grünen steht ein Baum, der mit Weihnachtsschmuck behängt ist. Darunter ist eine kleine, mit roter Folie ausgekleidete Krippe aufgestellt. Die wenigen Bänke lassen darauf schließen, dass sich hier Menschen zur vorweihnachtlichen Novena treffen. Es ist ein schöner Brauch und ich betrachte die Anordnung in stiller Andächtigkeit.

Mit unserem Bus unterwegs

Wir fahren von Hütte zu Hütte, Wasser, Matsch und Schlamm, wohin man schaut. Für mein kleinlautes „Feliz Navidad“ schäme ich mich – es klingt fast zynisch. Angesichts unserer roten Tüten erwarte ich Überraschung und Freude, doch die Menschen bleiben seltsam verschlossen und ernst.

Vorübergehend hat der schreckliche Regen aufgehört. Ich bin mit Adriana allein unterwegs. Wir besuchen eine kleine Familie mit einem 1 ½ jährigen Mädchen, deren Kopfform auf einen gewaltigen Hydrozephalus hinweist. Es schläft. Das Kind muss einer speziellen Diagnostik in Santa Cruz zugeführt werden, aber den Eltern fehlt das Geld für die notwendigen Dokumente. Ohne Geburtsurkunde und Kennkarte sind keine behördlichen Vorgänge möglich. Auch wenn die Prognose schlecht ist, darf eine gründliche medizinische Untersuchung nicht an finanzieller Not scheitern. Mein ethisches Gewissen lässt mich den Betrag bezahlen, auch wenn es für dieses Kind wahrscheinlich keine Lösung bringt.

Es fehlen Bolivianos für Fahrt und Untersuchung und Behandlung

Plötzlich stehen Hilda und Luis Fernando vor der Tür. Luis ist jetzt ein fast 19 jähriger junger Mann, den wir vor vielen Jahren unterwegs mit schlimmen Klumpfüßen aufgelesen haben. Hilda hat ihn in Pflege genommen und die Bürde einer langwierigen, umständlichen Behandlung auf sich geladen. Ihr und einem hessischen Wohltäter ist es zu verdanken, daß der Junge sich gut entwickelt und jetzt sein technisches Abitur abgelegt hat. Er wird seinen Platz sowohl in der Gesellschaft wie auch im Beruf finden.

Luis Fernando

Luis mit 3 J.

Weihnachten rückt näher. Im langen Korridor des Klosters flackert und blinkt und glitzert eine bunte Lichtgirlande. Ich bemühe mich trotz allem um weihnachtliche Gefühle, gehe ins Dorf, ertrage die Pfützen und die Löcher, die Rillen, den Müll und den Unrat und den Matsch. Es ist viel Verkehr – unzählige Motos umfahren die Pfützen, und so mäandert jeder vor sich hin ohne Rücksicht auf Verkehrsregeln. Das Überqueren der Straße ist lebensgefährlich, der gesamte fließende Verkehr ist nicht kalkulierbar. Ich hätte gern eine Kerze und rotes Geschenkband. Beides finde ich inmitten von kitschigem Plastikkrempel Made in China.

Der Abend ist lau und schön. Die Mücken halten sich in Grenzen. Ich genieße die tiefe Stille und das Alleinsein. In der Kirche ertönt das „Herbergslied“, welches die franziskanischen Missionare irgendwann aus Tirol mitgebracht haben. In meinem Zimmer verströmt die Kerze mit der Virgin von Cotoca warmes Licht bis hinein in meine Seele. Es ist Weihnachten.

Heiligabend. Der Himmel ist immer noch grau. Alles steht im Zeichen des Festes. Ich kaufe noch Kekse und Tütchen und Schächtelchen, um mir und den anderen eine kleine Freude zu bereiten. Mit Schwester Andrea besuchen wir noch einige Familien im Dorf. Eine sog. Patchworkfamilie lebt mit 11 Personen in einem Raum. In der nächsten Hütte finden wir einen Mann im Rollstuhl – Zustand nach Verkehrsunfall. Arbeitslosengeld, Unfallversicherung, Behindertenhilfe gibt es nicht. Die Familie ist mittellos, der Beutel mit Lebensmitteln ist nichts als ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber heute ist Weihnachten. Wie viele Wäschestücke muss die Frau waschen, um zu überleben?

Am 27. Dezember ist das Frohe Fest auch hier vorbei. Ich möchte mit Schwester Martha, der Provinzoberin, über die nächsten Arbeitsschritte sprechen. Leider ist sie nicht greifbar. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als inzwischen schriftlich eine Arbeitsplanung zu erstellen und den Aufgabenbereich einer jeden Mitarbeiterin zu beschreiben. Schwester Janira leitet das Ernährungszentrum, ist aber auch in der Kirche und für die Schwesterngemeinschaft tätig. Sie braucht Hilfe und Entlastung.

Mir fehlt ein Computer! Zusammen mit Schwester Miriam finden wir ein Gerät, welches wir abbauen und in einem leeren Zimmer aufstellen. Lose Stecker und Kabel werden neu sortiert und die verschiedenen Geräte miteinander verbunden. Es funktioniert. Der Arbeitsplatz mit Bildschirm, Tatstatur, Rechner, Drucker, Maus ist fertig. Jetzt kann ich ungestört arbeiten. Stundenlang tippe ich Arbeitspläne, Statistik, Personalkosten ab. Wir müssen mit allen Beteiligten sprechen, müssen sie für eine konstruktive Teamarbeit gewinnen und zwischen Einzelnen vermitteln.

Komfortabler Arbeitsplatz

Verabredung mit Schwester Andrea und Profesora Lidia. Sie ist in ihrer Arbeit als Leiterin des Zentrums TAU besonders hart getroffen: Sie fällt mit ihren Schülern unter die behördlichen Anordnungen und muss vom Präsenz- auf homeschooling umstellen. Sie fährt mit Gray hinaus ins Dorf, bildet Gruppen mit den TAU-Kindern, aber auch mit Nachbarkindern.

Homeschooling auf bolivianisch

Homeschooling auf bolivianisch

Am Ende unterrichtet sie unter abenteuerlichen Umständen 70 Kinder. Viele gehen nicht in die Schule, obwohl sie in einer Regelschule erfolgreich sein könnten. In diesen Fällen fehlt es an den erforderlichen Dokumenten. Schon die Geburtsurkunde ist mit Kosten verbunden und Voraussetzung für das Ausstellen einer Kennkarte. Vor uns auf dem runden Tisch ergießen sich Seiten von Listen, Kostenaufstellungen, Fotokopien. Fast 70 Kindern hat sie mit der Beschaffung ordentlicher Ausweispapiere den Eintritt in die behördliche Existenz ermöglicht. Die Kosten hierfür betragen 23.700 Bolivianos, umgerechnet sind das knapp 3000 Euros.

Jetzt gehören sie dazu

Fabiola mit ihren Nichten

Das TAU-Team besteht normalerweise schon seit etlichen Jahren aus vier Mitarbeiterinnen. Neben Prof. Lidia, der erfahrenen Lehrerin helfen Eugenia, Veronica und die Krankengymnastin Fabiola. Fabiola und ihre gesamte Familie sind an Corona erkrankt, wir haben uns nicht treffen können.

Mit Adriana besuche ich ein Kind in der Kinderklinik: der 11 Monate alte Junge hat einen handtellergroßen Tumor im Bereich der rechten Schädelseite. Auch er muss in eine Spezialeinrichtung nach Santa Cruz begleitet werden, um Diagnostik und Therapie festzulegen. Insgesamt stehen jetzt 5 Kinder auf der Liste, die Adriana in die 340 km entlegene Großstadt im Nachtbus begleiten muss.

Im Nebenbett liegt ein kleines Mädchen von fragiler Statur. Mit 2 Jahren wiegt es knapp 10 kg, die Folge einer dauerhaften Fehl-bzw. Unterernährung. Adriana ist auf Station bekannt, sie weist unsere akut kranken Zentrums-Kinder ein und übernimmt im Gegenzug stationäre Kinder zur Nachsorge und Ernährungsberatung. Die Zusammenarbeit mit den Kinderärzten des Hospitals ist gut, man vertraut sich. Stationäre Einweisungen in das große Ernährungszentrum in Santa Cruz sind längst Vergangenheit, Kinder müssen nicht mehr über Wochen und Monate von ihren Familien getrennt werden.

Wir treffen einen der Kinderärzte und ich frage nach statistischen Werten bezüglich des Ausmaßes der Unterernährung. Die wird offenbar nicht erhoben, obwohl Gewicht und Körpergröße bei jedem Kind regelmäßig festgestellt werden. Wie wir später von der Bürgermeisterei erfahren, liegen keine Statistiken vor, die Grundlage für ein gemeinsames Ernährungskonzept sein könnten.

Der Regen hat inzwischen nachgelassen. Die Sonne scheint vom blauen Himmel und lässt das Thermometer schon am Vormittag auf 36 Grad klettern.

Der Schweiß läuft mir in die Augen, sie brennen und ich sehe nichts mehr, das Gefühl für die Jahreszeit ist mir längst abhandengekommen. Gleich ist Silvester, wir verabschieden des zweite Corona-Jahr und begrüßen ein Neues mit weltweit hohen Inzidenzen.

1. Januar 2022 – Prost Neujahr. Die Ladefläche der roten camionetta von Pater Pablo wird mit Lebensmittelpaketen beladen, die in der kleinen Gemeinde San Ana an 20 Familien verteilt werden sollen. Über einen holprigen Weg fahren wir fast 45 km, das Auto rumpelt und scheppert und holpert über Löcher, Gräben und Rillen, die nach den schlimmen Regenfällen tiefer als gewöhnlich sind. Unsere Ankunft in der kleinen Gemeinde spricht sich rasch herum, und dann komme sie angelaufen: Erwachsene, Alte und Junge und die vielen Kinder. Die meisten sehen krank aus, fiebrig und husten um die Wette. Gern würde ich hier eine Sprechstunde abhalten, die Kinder versorgen und Medikamente verteilen.

Schwester Janira legt mir nun endlich die Statistik über die Arbeit des Ernährungszentrums vor, die so wichtig für die weitere Planung ist. Hier bilden sich die Folgen der Pandemie ab: die Häufigkeit der Besuche im Dorf, aber auch die Anzahl der z.T. schwer unterernährten Kinder sind drastisch angestiegen. Sie und ihr Team haben im Jahr 2021 knapp 800 Kinder betreut. Natürlich ist auch der Bedarf an Spezialnahrung und Soja gestiegen und wird das nächste Budget belasten.

Das Santa Clara-Team

Mein Aufenthalt neigt sich langsam dem Ende zu. Mit Lidia geht es noch einmal hinaus ins Dorf, sie zeigt mir die Umstände und Gegebenheiten ihres Unterrichts. Da ist auch die Familie mit ihren 12 Kindern, von denen keines die Schule besucht! Allen fehlt das sog. carnet, ohne das sie in der Schule nicht eingetragen werden können. Lidia nimmt die Sisyphusarbeit auf sich, beschafft Berge von Unterlagen, erträgt Auseinandersetzungen mit den Behörden. Ein Einwohnermeldeamt der Gemeinde vor Ort gibt es nicht, eine Meldepflicht auch nicht, sodass die Schulpflicht der Kinder längst nicht immer umgesetzt werden kann.

Da ist noch ein letzter Besuch zu machen: seit Jahren pflegt Deisy ihren schwerkranken Mann, der aufgrund eines unbehandelten Diabetes beidseits offene Beine hat. Jetzt sitzt er im Rollstuhl, abgemagert, mit teilnahmslosem Blick. Um seine beiden Füße sind schmutzige Fetzen gewickelt, darunter verbergen sich riesige, schmierige Wundflächen. Hier müssen wir wieder einmal resignieren und uns den Grenzen des Machbaren beugen. Die Tüten mit Reis und Nudeln sind vielleicht Trost, eine Hilfe sind sie sicher nicht.

Die Bilder hier draußen im Dorf sind immer dieselben: verstreute primitive Holzhütten, durch deren Ritzen der Wind pfeift und das Dach undicht ist. Eine Vielzahl von Kindern springt herum, ausgemergelte Katzen und Hunde suchen sich irgendwo Nahrung. Gewaschen wird immer und überall, ob für Fremde gegen ein kleines Verdienst oder den eigenen Bedarf erschließt sich nicht. In fast jeder Hütte verbirgt sich eine unglückliche Geschichte, ein Drama, mit dem die betroffenen Menschen aufgrund eines fehlenden Sozialsystems auf sich gestellt bleiben. In einer der Hütten hat mich ein Schicksal besonders berührt: Marina ist 47 Jahre alt, ist wegen eines Schlaganfalls zum Schwerstpflegefall ans Bett gefesselt, neben ihr steht ein Becher mit Strohhalm, wer ihn ihr reicht, ist ungewiss.

Wir müssen uns damit abfinden, daß unsere Hilfe nicht bei allen ankommen kann. Die Kraft, die wir brauchen, nehmen wir aus den hoffnungsvollen Fällen, den Kindern, die endlich gedeihen, den Alten, deren Leiden wir lindern können.

Zum Schluss ist es gelungen, den neuen Bürgermeister Tojo Guaristi mitsamt seiner Mannschaft in der Bürgermeisterei anzutreffen. Tojo ist der Sohn des verstorbenen Vaters Pablo, der vor vielen Jahren Schwester Letitia, die Gründerin des Hospital Guarayos, unterstützt hat. Nun sehen wir in seinem Sohn sowie dem Stadtratsvorsitzenden Robert Schock neue Hoffnung, daß sie unserem „Projekt Guarayos“ wohl gesonnen sind. Spontan bieten sie uns ihre Hilfe und Unterstützung an. Es liegt nun an uns, ihnen ganz bald Vorschläge zu unterbreiten.

Wegen eines positiven PCR-Testes muss ich meinen Rückflug nach Deutschland verschieben. Dieser unerwartete Aufschub gibt mir die Gelegenheit, meinen Einsatz in der Corona-gebeutelten Region Guarayos zu überdenken. Ich bin zufrieden. Beide Teams – Santa Clara und TAU- arbeiten mit neuen Ideen und Improvisationstalent vorbildlich weiter. Im Vordergrund stehen weiterhin die Besuche im Dorf. Obwohl die Basisarbeit gesichert ist, gibt es für einen neuen Besuch noch viel zu tun. Ich komme wieder!

 

Mit den besten Wünschen für eine erholsame Sommerpause verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen

Ihre 

Dr.med. Ute Glock.

Marwin Hehl